Paukenschlag vor einem Jahr: Systemische Therapie darf in Zukunft in Deutschland über die Krankenkassen abgerechnet werden! Ulrike Borst, 1. Vorsitzende der Deutschen Systemischen Gesellschaft (SG) und ehemaliges Vorstandsmitglied von Systemis, im ausführlichen Interview mit David Trachsler.

Der zuständige Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) fällte den epochalen Entscheid mit 8:5 Stimmen am 22.11.2018. Ganze 10 Jahre nach der Anerkennung durch den sogenannten Wissenschaftlichen Beirat. Zurzeit werden Richtlinien und Abrechnungsziffern angepasst und die entsprechenden Weiterbildungscurricula aufgebaut. Im Interview gibt Ulrike Borst Auskunft über die Bedeutung dieser Entwicklung für die Systemische Welt, das Gesundheitswesen und die Universitäten, über die zu erwartende Wirkung auf die Schweiz, über sich selbst und über den aktuellen Stand.

Systemis: Wann werden die ersten systemischen Therapien in Deutschland nach den neuen Richtlinien über Krankenkasse abgerechnet werden können? Ist mit weiteren Verzögerungen zu rechnen?
Ulrike Borst: Wir, die systemischen Verbände, rechnen mit dem Abschluss der Arbeiten in den entsprechenden Ausschüssen bis Frühjahr, spätestens Sommer 2020. Dann kann Systemische Therapie für Erwachsene über die Krankenkassen finanziert werden.

Systemis: Der Beschluss gilt ja nur für die Therapie mit Erwachsenen?
Ulrike Borst: Vorerst ja. Die systemischen Verbände in Deutschland, die SG und die DGSF, bemühen sich zurzeit um eine schnelle, also nicht nochmals Jahre dauernde Anerkennung der systemischen Kinder- und Jugendlichentherapie. Wir werden dabei von den allermeisten anderen Playern im Gesundheitssystem unterstützt, denn in der Kinder- und Jugendlichentherapie im Rahmen der Jugendhilfe ist die Systemische Therapie sehr etabliert und gar nicht wegzudenken, und die Studienlage zur Wirksamkeit bei psychischen Störungen von Krankheitswert ist, wie bei den Erwachsenen, sehr gut.

Systemis: Welche Voraussetzungen müssen TherapeutInnen erfüllen, damit sie ihre Therapien als Systemische Therapie abrechnen können? Soviel ich weiss, wird es erfahrene systemische KollegInnen geben, die Psychologie oder Medizin studiert haben, die dies nicht dürfen. Ist die Voraussetzung eine Approbation? Und wie kann die erfüllt sein, wenn es doch noch gar keine entsprechenden Weiterbildungen gibt?
Ulrike Borst: Ja, die Voraussetzung ist eine Approbation mit so genanntem Fachkunde-Nachweis spezifische systemische Weiterbildung samt klinisch-praktischer Erfahrung und ein so genannter Kassensitz. Es gab zum Glück doch ein paar mutige Kolleginnen und Kollegen, die bereits vor Jahren eine der wenigen angebotenen Approbationsausbildungen begonnen und inzwischen auch abgeschlossen haben. Sie haben frühzeitig auf das richtige Pferd gesetzt. Aber die systemischen Institute müssen nun ganz schnell weitere Approbations-Ausbildungsgänge anbieten, damit Systemische Therapie in Deutschland flächendeckend angeboten werden kann. Es sieht gut aus, dass die systemischen Institute das in ausreichender Zahl anbieten werden. Es gibt ja auch einige VT-Institute, die nun, in enger Zusammenarbeit mit Systemikern, systemische Ausbildungen anbieten – das ist gut, aber uns ist sehr daran gelegen, dass auch die genuin systemischen Institute zum Zug kommen.

Systemis: Es kommt mir etwas eigenartig vor, dass VT-Institute systemische Ausbildungsgänge anbieten. Zumal ich offizielle VT-VertreterInnen oft als sehr kritisch gegenüber systemischen Ausbildungen erlebt habe. Besteht hier nicht die Gefahr, dass der systemische Ansatz gewissermassen von der VT aufgefressen wird?
Ulrike Borst: Wir achten darauf, dass diese neuen Weiterbildungsgänge in hoher Qualität und von Systemikern angeboten werden. Viele VT-Institute sind sehr an einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe interessiert. Wir wollen aber auch erreichen, dass mindestens die Hälfte aller Neu-Approbierten an systemischen Instituten weitergebildet werden.

Systemis: Das Mehrpersonensetting ist in der Systemischen Therapie von grosser Bedeutung, ebenso die Vernetzung mit anderen Fachpersonen. Welche Lösungen wird es hier im Abrechnungssystem geben, bzw. welche Lösungen werden seitens der SystemikerInnen angestrebt und wie gross sind die Chancen, diese durchzusetzen?
Ulrike Borst: Ja, das ist eines unserer wichtigsten Anliegen – Mehrpersonensettings und die Arbeit im Netzwerk stärken! Es ist ja oft ein erhöhter Aufwand mit solchen Gesprächen verbunden, sowohl im Vorfeld bei der Organisation, als auch während der Gespräche, durch die oft erhöhte Konfliktspannung. Solche Gespräche führt man nicht eines nach dem anderen. Es sollte also ein höherer Tarif gelten. Dafür setzen wir uns ein.

Systemis: Ich halte die Entwicklung für einen immensen Erfolg, zu dem ich dir und der ganzen Steuerungsgruppe im Namen von Systemis sehr herzlich gratuliere!  Was hat am Schluss den Unterschied gemacht, dass dieser Durchbruch nach so langer Zeit endlich möglich wurde?
Ulrike Borst: Zwei Faktoren waren wichtig: Erstens stand der gesundheitspolitische Wind günstig, denn – wie in der Schweiz – sind die Psychotherapieplätze rar und die Wartezeiten lang, und der G-BA geriet wegen unendlich langer Bearbeitungszeiten von Anträgen in die Kritik. Zweitens haben wir rechtzeitig von der Argumentation, dass ST wirksam ist, umgeschaltet auf die Forderung, dass ST den Patientinnen und Patienten nicht länger vorenthalten werden darf. Das war auch die Forderung der PatientenvertreterInnen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.

Systemis: Wie ist in dieser Übergangszeit und nach diesem Erfolg in der systemischen Szene die Stimmung? Und wie sind die Reaktionen der übrigen Fachwelt und der Öffentlichkeit? Gibt es auch Ärger und Angst vor Konkurrenz?
Ulrike Borst: In der systemischen Szene sind die Reaktionen gemischt. Manche fürchten, dass sie, obwohl sie seit Jahren Systemische Therapie anbieten, nun Therapeuten zweiter Klasse werden, weil sie keine Approbation und keinen Kassensitz haben. Viele könnten beides gar nicht erreichen, da sie z.B. Sozialpädagogik studiert haben. Wir sagen aber: Die Anerkennung der ST als wirksames Verfahren in der ambulanten Gesundheitsversorgung wird ausstrahlen auf das Renommee der ST in anderen Bereichen, z.B. in der stationären Gesundheitsversorgung oder in der Jugendhilfe. – Die übrige Fachwelt ist, soweit ich das höre, durchweg sehr angetan! Sehr erfreulich ist z.B. die Unterstützung durch andere Psychotherapierichtungen, namentlich der VT und der psychodynamischen Verfahren. Die GesprächspsychotherapeutInnen haben uns auch nach Kräften unterstützt, obwohl ihnen selbst leider bisher die Anerkennung verwehrt wurde.

Systemis: Das tönt wirklich sehr positiv, aber auch fast etwas unglaubwürdig harmonisch? Wie erklärst du dir diese Harmonie? Oder ist sie nur vordergründig?
Ulrike Borst: Klar, da müssen wir immer genau hinsehen. Mich stimmt aber insgesamt optimistisch, dass das Stichwort „Verfahrensvielfalt“ in aller Munde ist und der deutsche Sonderweg, dass nur drei Verfahren kassenfinanziert sind und sich deshalb so scharf abgrenzen müssen gegen andere Verfahren, zu Ende geht. Wachsam bin und bleibe ich, wenn ich Aussagen höre wie: „Es wirkt, also ist es VT.“ Dann droht eine unzulässige Vereinnahmung einer Methode durch ein Verfahren. Passiert ist das z.B. mit den achtsamkeitsbasierten Methoden.

Systemis: Welche indirekten Änderungen erwartest du mittelfristig in Deutschland durch diesen Entscheid an Universitäten, Kliniken, Praxen und der Gesundheitsversorgung?
Ulrike Borst: Das ist eine sehr wichtige Frage und ein brennendes Problem: An den Universitäten fehlt uns eine ganze Generation von 1999 bis 2019 an WissenschaftlerInnen. Wir fordern jetzt, dass bei Lehrstuhl-Besetzungen ab sofort sehr gut darauf geachtet wird, dass systemisch aus- und weitergebildete WissenschaftlerInnen berücksichtigt werden. Es gibt nicht viele von ihnen, aber es gibt sie. In Kliniken, auch in der Schweiz, hörte man vielfach das Argument, Systemische Therapie sei ja nicht anerkannt, und deswegen seien StellenbewerberInnen mit VT-Hintergrund zu bevorzugen. Dieses Argument war spätestens ab 2008, ab der wissenschaftlichen Anerkennung, falsch und ist jetzt noch falscher!

Systemis: Auch In meiner Wahrnehmung hat die Ausgrenzung der SystemikerInnen in Deutschland in die Schweiz hineingewirkt. Das betrifft naturgemäss vor allem Universitäten und Kliniken, weil dort besonders viele Deutsche arbeiten. Denkst du, dass sich nun auch mit umgekehrten Vorzeichen die neue deutsche Entwicklung in der Schweiz bemerkbar machen wird?
Ulrike Borst: Das wünsche ich mir, und das müssen wir fordern. Ich möchte nie wieder von einem deutschen Chefarzt in der Schweiz oder von einer deutschen Professorin in der Schweiz hören, dass die Systemische Therapie weniger wirksam sei als z.B. die VT.

Systemis: Du warst unmittelbar vor meiner Zeit im Vorstand von Systemis, danach hast du an die Spitze der Deutschen Systemischen Gesellschaft gewechselt. Was war deine persönliche Motivation, eine solche Herkulesaufgabe in Angriff zu nehmen?
Ulrike Borst: Das war meine Wahlaussage vor sieben Jahren, bevor ich als 1. Vorsitzende der SG gewählt wurde: Ich will mich dafür einsetzen, dass die Systemische Therapie in Deutschland endlich sozialrechtlich anerkannt wird. Zwar war und bin ich beruflich eher Schweizerisch als Deutsch sozialisiert, aber ich habe ja eben auch gemerkt, wie in der Schweiz, mit den vielen Deutschen im Gesundheitswesen und an den Universitäten, oft gegen die ST argumentiert wurde. Und gerade als jemand, die über 25 Jahre lang in psychiatrischen Kontexten mit psychisch schwerst gestörten Menschen gearbeitet hat und die immense Bedeutung gesehen hat, die die Familie und der gesamte sonstige Kontext für diese Menschen hat, hat es mich empört, wie eng in der Psychiatrie der Fokus auf das Individuum und die Symptome und die Pharmaka gerichtet wird. Klar, es war unglaublich viel Einsatz nötig, aber es hat sich gelohnt. Ich wünsche mir jetzt, dass diese weitere, systemische Sicht auf psychische Störungen auch wirklich in der praktischen Arbeit an- und den Patientinnen und Patienten zugutekommt.

Systemis: Da kann ich mich natürlich nur anschliessen. Du weichst meiner Frage aber etwas aus: Wie hast du das persönlich geschafft, sieben Jahre deines Lebens für diese Aufgabe einzusetzen? Immer weniger KollegInnen setzen sich ja für berufspolitische Anliegen ein, nur schon deshalb, weil man das neben der praktischen Tätigkeit schwer hinkriegt.
Ulrike Borst: Da kam mir mein Lebensalter zugute. Wenn man nicht mehr an der Karriere basteln muss und die Kinder erwachsen sind, kann man wieder mehr Zeit für ein Ehrenamt erübrigen. Aber die vielen Reisen nach Berlin, Köln und Frankfurt reichen mir jetzt auch!

Systemis: Wie sind deine Gefühle nach diesem grossen und historischen Erfolg?
Ulrike Borst: Ich bin stolz und glücklich, aber denke schon an das nächste Ziel: Wieder mehr Augenmerk auf die fachliche Entwicklung in der systemischen Beratung und Therapie zu legen! Durch unser Engagement in der Gesundheitspolitik haben wir die Theorieentwicklung ein bisschen vernachlässigt. Nach einer tollen SG-Tagung im Mai in Berlin denke ich, dass die Schweiz und Deutschland sich in der fachlichen Entwicklung ruhig wieder mehr zusammentun sollten.

Systemis: Liebe Ulrike, vielen Dank für dein Engagement und für dieses Interview!
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Ulrike Borst: Eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin, langjährige klinische Tätigkeit in der Erwachsenenpsychiatrie, Leiterin des Ausbildungsinstituts für Systemische Therapie und Beratung Meilen, 1. Vorsitzende der Deutschen Systemischen Gesellschaft, Mitherausgeberin der Zeitschrift Familiendynamik, Verfasserin zahlreicher Bücher, Praxis in Zürich.

David Trachsler: Eidgenössisch anerkannter Psychotherapeut, langjährige klinische Tätigkeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Ausbildungssupervisor am IEF Zürich, Mitinhaber der Plattform für systemische Kompetenz, Vorstandsmitglied Systemis, ehemaliger Journalist und Sprecher, Praxis in Zürich.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

Ein ausführlicher Artikel zum Thema ist in der Familiendynamik 2019/Heft 3 erschienen unter dem Titel: „Gib niemals auf“.