«Du bist nicht krank, Du hast einen Zyklus.». Nach diesem Leitsatz arbeite und lebe ich so gut es mir gelingt. Meiner Haltung nach ist dies für Menschen aller Geschlechter relevant, denn alle Menschen besitzen einen Zyklus, wenn auch ein unterschiedlicher. Männer durchleben typischerweise einen 24-Stunden-Zyklus, bei dem insbesondere das Hormon Testosteron eine entscheidende Rolle hinsichtlich Stimmung und Verhalten spielt. Bei Frauen stellt sich die Situation etwas komplexer dar, da diese einen Zyklus von rund 28 Tagen durchleben, bei dem gleich mehrere Hormone beteiligt sind. Darunter fallen vor allem Östrogen (korrekterweise eine Östrogen-Gruppe) und Progesteron.

In einer Gesellschaft wie jener, in der wir hier in der westlichen Welt leben, ist es von Vorteil, wenn wir möglichst jeden Tag gleich funktionieren und damit auch jeden Tag die gleiche Leistung, Effizienz und Produktivität erbringen können. Doch wie eingangs erörtert, ist dies schon allein aufgrund der biologischen Tatsache der unterschiedlichen Zykluslänge nicht für alle Menschen gleichermassen möglich. Viele Menschen, die uns im beratenden oder therapeutischen Setting begegnen, berichten über kurz oder lang von Schwierigkeiten «mit der Umwelt mitzukommen», «dieselbe Leistungsfähigkeit zu besitzen wie früher», oder von Stimmungsschwankungen, Veränderungen im Schlaf, der Libido, der sozialen Kontaktfreudigkeit oder von körperlichen Veränderungen, die sich auf den Selbstwert und das Wohlbefinden im eigenen Körper auswirken können. All’ diese Themen werden von unserem Hormonhaushalt mitbeeinflusst. Entsprechend habe ich mir angewöhnt, in meinem therapeutischen Setting stets die Frage zu stellen «Wo stehen sie gerade in Ihrem Zyklus?». Die meisten schauen mich erst mal überrascht an, da die wenigsten diese Frage erwarten. Die Frage mag erstmal nur für Frauen bzw. Menschen mit Gebärmutter sinnvoll erscheinen. Für mich ist es relevant, diese Frage zu stellen, denn das subjektive Erleben, die Bedürfnisse, das Energielevel, das Interaktionsverhalten, die Verarbeitung von Emotion und Kognition, Frustrationstoleranz sowie die allgemeine Affektregulation stellen sich während der Menstruation, in der anschliessenden vitalen Phase, während des Eisprungs und im Abschnitt vor der nächsten Menstruation ausgeprägt unterschiedlich dar. Nochmals anders wird es, wenn der Zyklus im Rahmen der Perimenopause durch die hormonelle Umstellung unregelmässig wird. Das Wissen darum kann für Betroffene und ihre Angehörigen als entlastend erlebt werden, dazu dienen sich selbst besser zu verstehen und die eigenen Bedürfnisse selbstfürsorglicher zu bedienen.

Doch auch für Männer oder Menschen mit 24-stündigem Zyklus macht es Sinn, sich seines Zyklus‘ bewusst zu werden und zu beobachten, wann im Tagesverlauf die Leistungsspitzen sind, ob man vom Chronotyp her eher «Eule» oder «Lerche» ist, wann eher Pausen benötigt werden, welcher Rhythmus für die eigene Befindlichkeit passend ist und wie die Bedürfnisse bestmöglich in den Alltag integriert werden können.

Da der Zyklus einer Frau komplexer ist, als jener eines Mannes, erlaube ich mir an dieser Stelle etwas genauer darauf einzugehen. Stark vereinfacht beschrieben könnte gesagt werden, dass Frauen im Rahmen ihres Zyklus’ vier verschiedene psychologische Phasen durchlaufen, in denen sie vier verschiedenen inneren Anteilen oder Zuständen begegnen können. In den Tagen der Menstruation kann vom inneren Winter und dem Archetyp der weisen Frau gesprochen werden. Stichworte wie Rückzug, Stille, Ruhe, Regeneration und Loslassen gehören zu dieser Phase. Gleichzeitig kann diese Phase für viele Betroffene eine schmerzhafte und belastende Zeit sein. Zwischen der Menstruation und dem Eisprung folgt die Phase des inneren Frühlings mit dem Archetyp der jungen Frau. Leichtigkeit, Vitalität, Aufbruch und Klarheit könnten diese Phase beschreiben, in der Lernen und Spielen besonders wertvoll erscheint. Im inneren Sommer, der Eisprungphase, ist häufig der Archetyp der liebenden Frau spürbar. Mitgefühl, Fürsorge, Kraft und Stärke sowie Sinnlichkeit können dieser Phase zugeschrieben werden. Lieben und Geniessen kann in dieser Phase besonders gut gelingen. Vor der nächsten Menstruation folgt die Phase des inneren Herbstes. Diese wird von vielen Frauen als die «PMS-Phase» verstanden, die mit unangenehmen Symptomen wie Stimmungsschwankungen, Gereiztheit, Affektlabilität und Unwohlsein einhergehen kann. Vom Archetyp her könnte man sagen, dass es die Phase der Kriegerin ist. Kreativität und Intuition sind in dieser Phase besonders ausgeprägt. Grenzen werden deutlicher gespürt und die Sprache wird direkter.

In der Summe stelle ich die Hypothese auf, dass wir Menschen verlernt haben, mit unseren Zyklen zu leben. Entsprechend empfinden wir Veränderungen, die durch unseren Zyklus auftreten, als «lästige Symptome, die wieder verschwinden sollen, da sie uns daran hindern, ein erfülltes Leben zu führen». Doch wenn wir lernen, diese als Teil unseres zyklischen Wesens zu akzeptieren, sie als Signale deuten lernen und sie gegebenenfalls sogar nutzen lernen, kann ein neues Sein entstehen, mehr hin zum Menschsein und weg vom Maschinensein. Ich versuche entsprechend im Rahmen meiner therapeutischen Tätigkeit stets den Blick auf den Zyklus zu wahren und gemeinsam mit meinem Gegenüber zu prüfen, ob die Symptome, die geschildert werden, tatsächlich Symptome mit Krankheitswert sind oder ob diese als natürliches Produkt unserer zyklischen Natur zu verstehen sind. Mit Hilfe einer solchen Einordnung und Entwicklung von Verständnis für das, was passiert, kann der Umgang mit dem Auftretenden verbessert und im Idealfall der Leidensdruck verringert werden. Manchmal gelingt es sogar, dass eine Person sagt «Frau Jacob, ich bin gar nicht so unfähig, wie ich immer geglaubt habe. Ich bin einfach in der Phase vor meiner Menstruation kognitiv nicht so leistungsfähig, wie ich von mir selbst erwarte. Ich möchte mir nun mehr Pausen einräumen, besonders in den Tagen vor meinen Tagen.». Und ich denke «Ja. Sie sind nicht krank, sie haben einen Zyklus.»

Zu meiner Person: Tiffany Jacob, 33-jährig, Eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin mit systemischem und kognitiv-verhaltenstherapeutischem Schwerpunkt, Stellvertretende Chefpsychologin in einer psychiatrischen Klinik, zertifizierte Zyklusmentorin und Gründerin von MIND.YOUR.CYCLE. www.mindyourcycle.com