– von Thomas Feldmann

Wie gehen wir Männer mit Verlust, Abschied und Trauer um? Was kann uns Männer in Schmerz und Trauer unterstützen? Ein Blick auf die Trauerbegleitung von Männern – von Mann zu Mann.

Martin sitzt mir gegenüber. Er wirkt müde. Wir schauen uns an. Er hält den Blick fast nicht aus. Schaut aus dem Fenster, ist weit draussen mit seiner Aufmerksamkeit. Ich löse meinen Blick von ihm. Ich schaue auch hinaus. Es entsteht Raum zwischen uns. Weit draussen treffen wir uns. «Ist es da draussen sicher?» frage ich ihn nach einer Weile, ohne ihn anzuschauen. «Ja. Dieser Baum da. Ich bin wie dieser Baum. Kein Blatt mehr». «Was ist dir passiert?» frage ich ihn.

Martin beginnt zu erzählen. Seine Stimme ist leise. Sein Redefluss stockt. Ich muss gut zuhören, um ihn zu verstehen. Füge Wortfragmente zusammen und erahne deren Bedeutung. Martin weint. Er wischt sich die Tränen mit dem Hemdstoss von der Wange. Er wirkt verletzlich.

Manchmal ist das Schlimme nicht in Worte zu fassen. Fragmentierte Geschichte, die am Stück nicht auszuhalten wäre. Martin erlebt sich ohne Orientierung. Die überflutenden Gefühle überfordern ihn. Da ist alles in ihm. Wut und Trauer. Angst und Ohnmacht. Schmerz und Scham. Es fühlt sich dumpf und dunkel an. «Abgründe sind das», die er bisher noch nie so erlebt habe. Zu stark sei der Wille und die Gewohnheit gewesen, solche Gefühle zu vermeiden und in sich zu halten. Wutausbrüche, ab und zu und Rückzug, das auch.

Was ihn denn an seinem Zustand am meisten beschäftige, frage ich ihn. «Ich habe Angst, die Kontrolle über mich zu verlieren und nicht mehr zu funktionieren» gesteht er mir. Und er sei sich in diesem Zustand selbst fremd. Er schäme sich, sich mir so zu zeigen. Als Mann.

Die Angst vor Dammbrüchen

Martin lebt mit diesem Damm in sich, den ich bei vielen Männern spüre, die Verluste erleben. Ein Damm, der trennt. Es ist ein Damm, der das Schlimme des gefühlten Schmerzes im Zaum halten soll. Die Angst, er könnte brechen und nichts mehr halten ist schlimmer als die Trauer über den erlittenen Verlust. Der Aufwand an Kraft, das ganze innere Konstrukt aufrecht zu erhalten, ist grösser als der Schmerz über den Abschied eines geliebten Menschen. Martin rettet sich auf die sichere Seite. Er ist sich sicher: Den reissenden Bach von Schmerz und Trauer kann nur überleben, wer nicht hineinfällt und sich nicht davon mitreissen lässt. Martin klammert sich an den Stuhl. Seine Hände sind blutleer vor Anstrengung. Ich stehe auf und fordere ihn auf, es auch zu tun.

Ich frage Martin nicht, wie es ihm geht. Erstens nehme ich es wahr und zweitens mögen Männer das nicht. Männer antworten oft kurzangebunden, damit die ‘Sache’ erledigt ist: «Gut» oder «Es geht» oder «Es muss ja» oder «Weiss nicht». Ich frage ihn das, was er weiss und benennen kann. Ich spreche mit ihm darüber, ‘was noch geht’, was noch funktioniert. Wir gehen durch den Raum. Nebeneinander. Schauen aus dem Fenster. Da ist der Baum ohne Blätter. «Ich will meinen Job behalten. Diesen weiterhin gut machen. Ich möchte meine Frau trösten». Und: «Ich habe Verantwortung für die Familie. Ich kann mich nicht gehen lassen».

Männer leiden anders

Mir kommen Theorien in den Sinn die besagen, evolutionsgeschichtlich bedingt hätten viele Männer Angst vor Kontrollverlust. Irrational zu handeln sei mit der Angst verbunden, die Aufgaben der Nahrungsbeschaffung und des Schutzes der Familie/Sippe nicht mehr erfüllen zu können. Seelischen Schmerz und Trauer zuzulassen hätte zur Folge, nicht mehr handlungsfähig zu sein. Ich halte nicht sehr viel von diesem Erklärungsmodell männlichen Verhaltens. Ich hab’s eher mit der Sozialisation. Davon, dass wir Männer zu Männern werden und den Umgang mit uns und anderen, mit uns und unseren Gefühlen lernen. ‘Doing Gender’. Ich sage Martin meine Gedanken. Damit kann er etwas anfangen.

Männer leiden anders. Kritische Lebensereignisse wie drohender oder erfolgter Verlust der Arbeit, Trennung und Scheidung, schwere Erkrankung und der Tod naher Angehöriger sind gewichtige Belastungsfaktoren für Männer. Depressionen werden bei Männern oft nicht bemerkt, da sie sich anders zeigen können als bei Frauen. Depressive Männer sind oft innerlich unruhig, angespannt, leicht kränkbar, unkonzentriert, reizbar, missgestimmt, ärgerlich, wütend, zornig oder feindselig. Sie haben häufig Schlafprobleme, ziehen sich zurück, sind risikobereiter, konsumieren Alkohol und andere Drogen und haben eine höhere Suizidgefährdung als Frauen. Sie wirken nach aussen stark. Verlust und Trauer können sich zu einer Depression entwickeln.

Auswirkungen männlicher Sozialisation führen u.a. dazu, dass Männer Schwierigkeiten haben, Gefühle bei sich selbst und anderen wahrzunehmen, zu unterscheiden und zu benennen. Sie können Ereignisse gut beschreiben, die dazu gehörenden Erlebnisse aber nicht ausdrücken.

Überleben und am Leben teilnehmen

Wie viele Männer, die ich in der Begleitung in Krisen und nach Verlusten und Trauer erlebe, ist Martin im Überlebensmodus: die Organisation des Überlebens. Ich treffe Männer, die sich nach einem Verlust oder nach einem Abschied vor allem mit ihrem Weiterleben beschäftigen. Sie haben Angst, dass die Hinwendung zu Schmerz und Trauer sie untergehen lässt, sie die Kontrolle verlieren, machtlos werden und ihre Verantwortung nicht mehr wahrnehmen können. Und sie fühlen sich in ihrer Männerrolle und in ihrem Bild und Empfinden von Männlichkeit bedroht.

Dieser Umgang mit Trauer lässt Männer weiterhin am Leben teilnehmen und teilhaben, indem sie das tun, was ihnen vertraut ist und damit Sicherheit gibt. Sie erleben auf diese Weise in der Ohnmacht Selbstwirksamkeit. Oft ist das Verdrängen des Schlimmen das, was noch geht. Und hüten wir uns davor, Männer diese Strategie des Überlebens abzusprechen. Das sage ich Martin.

Manche Männer fragen mich: «Bin ich noch normal, so etwas in mir zu haben? Haben Männer das auch: Trauer? Ich fühle mich als Versager und kenne mich selbst nicht mehr in diesem Zustand!». Ich erkläre Martin, dass trauern eine normale Reaktion ist, auf die wir – auch wir Männer – bei Verlust reagieren. Trauer lässt uns Nähe und Verbundenheit erleben. Trauer ist der Preis, den wir dafür zahlen, Liebe zu empfinden (Archer, The Natur of Grief). Trauer gehört zum Menschsein. Frauen und Männer trauern. Häufig auf ähnliche Weise. Oft aber auch in einer individuell und geschlechtsspezifisch eigenen Form.

Traditionelle Männlichkeit: Keine Gefühle haben und zeigen

Viele Männer leben in der Spannung, einerseits zu erleben, wie es ihnen geht, und andererseits ihr Gesicht zu wahren, sich hinter einer Maske zu verbergen, sich nicht zu zeigen. Dies entfremdet sie von sich selbst und wirkt sich distanzierend auf ihr Umfeld aus (u.a. auf Partner*innen und Kinder).

Das Leitbild Traditioneller Männlichkeit lautet: Mann-Sein heisst, keine Gefühle zu haben und keine Gefühle zu zeigen. Ohne Selbstwahrnehmung sind auch Empathie zu anderen und Kontakt nicht möglich. Durch fehlenden Körperbezug nehmen Männern ihre Verletzlichkeit (Vulnerabilität) nicht wahr. Erst dann, wenn nichts mehr geht… So ist es eine Aufgabe der Trauerbegleitung von Männern, einen Rahmen und Raum anzubieten, um mit dem Verlust und der Trauer da sein zu können. Oft bin ich mit Männern zusammen, die sich das erste Mal öffnen und erzählen, was ihnen passiert ist.

Dem, was da ist, einen Ausdruck geben

Ich erlebe Männer, die sich in dieser Gleichzeitigkeit von Schmerz und Trauergefühlen und Überlebenskampf Hilfe suchen. «Es will nicht mehr in mir» gestand mir letzthin Peter. Die vertraute, sichere Insel des Selbstbildes und der Selbstempfindung scheint zu versinken. Männer brauchen Sicherheit und Orientierung, um sich den ‘schwierigen’ Gefühlen und dem Gegenüber in dieser Situation öffnen zu können.

Ich spreche Männer in Bildern an, nicht (zuerst) in Gefühlsbegriffen. Es begegnet mir so etwas wie ein ‘Gefühlsanalphabetismus’, die in der Beratung und Begleitung bei Männern zu einer ‘doppelten Beschämung’ führen kann. Ich als Berater kann mich ausdrücken. Der Mann schämt sich für seinen inneren Zustand. Er schämt sich, wenn ich ihn dazu auffordere, Gefühle zu benennen, und ich es kann und er nicht. Innere Zustände zu beschreiben, fällt vielen Männern einfacher, als über Gefühle zu reden. Darum spreche ich zuerst und manchmal lange in Bildern über das, ‘was da ist’. Die Insel, die versinkt. Der Abgrund, der sich auftut. Der Sumpf, der verschlingt. Das wilde Tier im Bauch. Die zähe, klebrige Masse, die alles mitnimmt. Der vom Sturm entwurzelte Baum. Auch Körperempfindungen spreche ich an: Kloss im Hals, Stein im Bauch, gehen auf dünnem Eis und stehen auf Triebsand, Kälte, Erstarrung, Taubheit u.a.m. Solche Bilder sind mit Emotionen verknüpft und ermöglichen es, darüber zu sprechen.

Was Männern in der Trauer helfen kann…

  • Männer möchten im Erleben von Schmerz, Verlust und Trauer Stabilität behalten oder wieder gewinnen können, überleben, ‘funktionsfähig‘ bleiben, Kontrolle behalten, Orientierung bekommen. Das lässt erleben: «Ich nehme weiterhin am Leben teil». Es kann hilfreich sein, das Vertraute weiterhin zu tun (z.B. arbeiten), Administratives zu erledigen, Organisation (z.B. Post mit Traueranzeige) zu übernehmen etc.
  • ‘Ich spreche nicht gern, ich mache lieber’. Viele Männer erkennen das Sprechen nicht als eine Form der Handlung. Sie bewerten das Sprechen (u.a. über Verlust und Trauer) als sinnlos, als Zeitverschwendung, als Nichts-Tun. Männer trauern handelnd. So kann es darum gehen, dem manchmal Unfassbaren einen Ausdruck, eine Form zu geben, um damit sein und umgehen zu können und sich als lebendig und wirkungsvoll zu erleben (Bewegung/Sport, in der Natur sein, kreativer Ausdruck wie schreiben, fotografieren, malen, werken etc.), Entspannungsübungen, Musik hören, lesen, Sex. Ich bestärke Männer in ihrer Form des Umgangs und ermutig sie gleichzeitig auch in Kontakt, im Gespräch zu bleiben mit der/dem Partner*in, mit den Kindern, mit Kollegen/Freunden etc.
  • Männer wollen verstehen und begreifen. Als Begleiter erkläre ich, was passieren kann bei einem Verlust (Normalisierung der Trauerreaktion) und wie man mit inneren Zuständen (z.B. Aggressivität, Wut, Angst, Anspannung, Ohnmacht, Trauer…) umgehen könnte.
  • Ich unterstütze Männer, sich den Traueraufgaben zu stellen (Überleben nach dem Verlust, die Wirklichkeit des Verlusts begreifen, Umgang mit Gefühlen suchen, sich der neuen Lebenssituation anpassen, mit verstorbenen Menschen verbunden bleiben, das Geschehen in das eigene Leben einordnen, vgl. Chris Paul). In der Begleitung spreche ich diese Aufgaben an und wir suchen zusammen nach Möglichkeiten, damit umzugehen.

Das Ziel der Trauerbegleitung von Männern kann sein, dass Männer neben einer aktiven handelnden Position auch in eine beobachtende kommen. Lernen, auf sich zu achten, sich selbst bewusst zu werden, mit sich selbst sorgend zu sein, sich selbst wertzuschätzen und sich um die eigene Traurigkeit zu kümmern.

Martin konnte den Schmerz und die Trauer um den Verlust seines Sohnes, der wenige Tage nach der Geburt gestorben ist, annehmen. Das wilde Tier der Trauer schaute in erst bedrohlich an. Zähmen liess es sich erst durch viel Zeit, Zuwendung und Liebe. Und dadurch, dass Martin sich in seiner Trauer seiner Partnerin öffnete und beide Wege fanden, gemeinsam zu trauern und mit ihrem Sohn in Liebe verbunden zu bleiben. Martin ist sich bewusst, dass Trauer nie ganz vorbei sein wird. Er wird mit ihr leben. Wie mit einer Narbe, die von einer Verletzung zeugt.

Zu meiner Person: Thomas Feldmann, Systemtherapeut, Supervisor & Coach, Praxis für Beratung & Therapie
www.lebenstraining.ch – MännerPraxis: www.lebenstraining.ch/maennerpraxisth.feldmann@hispeed.ch