Seien wir ehrlich: die Frage nach dem Sinn systemischer Therapie zu stellen, steht im Rahmen der Verleihung von Ehrenmitgliedschaften (MV, 10.Mai 2025) wirklich schräg in der Landschaft. Um die Antwort auf die Sinn-Frage also gleich vorwegzunehmen: „Jein“.

Für wen oder was ergibt bzw. macht es Sinn? Und: Kann Sinn überhaupt „gemacht“ werden? Sinn ist ja nicht einfach etwas, das gesetzt ist, sondern lässt sich nur über Anschlusserfahrungen erschließen. Und: Was heißt „systemisch“ in Zeiten, wo die ST als Heilverfahren nun auch in Deutschland akkreditiert und damit kassenzulässig ist, psychische Belastungen damit aber zwingend krankheitsspezifisch und Therapieprozesse dementsprechend störungsspezifisch „medizinalisiert“ werden müssen? Oder mit den Worten des Soziologen Peter Fuchs. „Wo die Psychotherapie in der Medizin aufgeht, hat sie sich aufgegeben.“ Wo liegen Unterschiede, die einen Unterschied machen, sozusagen die Essenz der ST jenseits pathologischer oder konfessioneller Etikettierung (Grawe)? Dies gerade heute, wo dem Zeitgeist entsprechend immer mehr querbeet kombiniert und Weiterbildungen mit drei oder vier Buchstaben (ACT; EFT; MBSR; EMDR), Online- und nun auch Psychedelika gestützte Therapien boomen und so auch Systemiker:innen zu Wellenreitern werden?

Haben damit also all diejenigen Recht, die kritisieren, dass das Etikett „Systemische Therapie“ beliebig ist oder mit dem Fokus auf Kommunikation das Selbst (und das Unbewusste darin) ausgeblendet wird? Oder ist es letztlich trivial, weil es auch in unserer Profession darum geht, mit einem Zertifikat sein Geld zu verdienen, man durch  zunehmende Administration genervt ist und man gar keine Zeit für Grundsatzfragen hat?  Bleibt dieses Denken – gewissermaßen den Rändern entlang gehend – auch dann noch  lebendig, wo wir Oldies uns von der Bühne verabschieden, die Mitgliederzahlen in Verbänden zwar zunehmen, die Reihen sich aber trotzdem lichten?

Und wo nun, bitte, bleibt da die Zuversicht, das Ja im „Jein“?

Immer wieder treibt uns doch die Frage um, was, wie und warum unser Tun (nicht) wirkt; dann, wenn Veränderungen nicht spürbar werden, wenn man sich im Kreise zu drehen beginnt oder im Rahmen der ärztlich angeordneten Therapie neuerdings schon zu Beginn die Frage gestellt wird: „Wie lange muss ich denn (noch) zu Ihnen kommen“? Oder im Hinblick auf den geplanten Abschluss: „Habe ich nicht noch drei oder vier  Sitzungen zu gut?“-

Nicht zuletzt nisten sich dann auch (Selbst-)Zweifel ein und das Kopf-Kino beginnt zu laufen: fehlt mir die Gelassenheit, die Kompetenz? Was mache ich falsch, wenn in den Videos der Lehrmeister:innen doch Alles immer so elegant aussieht und mich letztlich auch Wellenreiten noch nicht zu einer guten Schwimmerin macht? Wie schön wäre es da, quasi ein rezeptartiges Modell „All in one“ zu haben, ein Modell, das ausreichend helfen könnte, den Faden nicht zu verlieren, Fallstricke zu erkennen,  gemeinsam auf den Punkt zu kommen, zum richtigen Zeitpunkt zu beenden usw.…

„The map is not the territory“, ja, ein viel zitierter Satz des Semantikers Korzybski auch in unserer community. Nicht weniger wichtig, leider aber oft vergessen, der Satz des Sozialpsychologen Kurt Lewin: „Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie.“ Für mich ist diese Erkenntnis, so wenig wie für den Feldforscher Lewin, nicht nur ein Glaubensbekenntnis, sondern das Fazit langjähriger, therapeutischer wie auch berufspolitischer Erfahrung, wie es auch Ulrike Borst in ihrer, mich tief berührenden  Ehrenmitgliedschaftslaudatio hervorgehoben hat. –

In Anlehnung an Gustav Mahler („Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten“)

braucht es also ein Erklärungsmodell, das hilft, die nicht-lineare  Dynamik sich selbst organisierender Humansysteme zu verstehen und gestalten, ein Paradigma das hilft, mich als Therapeut:in/Berater:in mit entsprechender Heuristik (z.B. Generischen Prinzipien) im Gestrüpp von Regulierungen, Erwartungen, Auftragssituationen, Methoden, Störungen und  Turbulenzen zu orientieren.  Auf dem Boden meines Vertrauens in die Klient:innen und Patient:innen entwickelte sich so ein Therapieverständnis des Bei-steuerns statt Steuerns. Es mag vielleicht auch erklären, warum ich diesen Beruf so lange und mit so viel Herzblut ausüben konnte. Gefestigt wurde darin aber auch das Wissen, dass sich Veränderungen (bzw. Nicht-Veränderung) zu einem grossen Teil ausserhalb des Therapiesettings ereignen, zum Guten wie zum Schlechten. Dieses Modell unter Beachtung der (eigenen) Grenzen von Machbarkeit, war für mich in der über 40 jährigen (beziehungsorientierten) Berufspraxis wohl die beste Selbstfürsorge und Prävention gegen ein Burn out!

Leider ist aufgrund der gesundheitspolitischen Entwicklung und entsprechender Bürokratisierung in der Versorgungspolitik zu befürchten, dass (Über-)Regulierung auch die Essenz der ST (und damit auch die stets hoch gehaltene Interdisziplinarität in Instituten und Verbänden) gefährden könnte. Es sollte aber doch nicht so werden, dass die ST dereinst nur noch als  Etikett  oder – mit Blick auf die veränderte geopolitische Lage und die darin geführte Kontroverse über die Neutralität – als „identitätsstiftender Mythos“ überlebt. Denn: wer wäre nicht prädestinierter als wir, Komplexitäten und  Systemdynamiken zu verstehen,  die Türe proaktiv in die Hand zu nehmen, d.h. unser Wissen und Können aus den Instituts- und Verbandräumen heraus, pro-aktiv in das Therapie und Beratungsfeld und in politische  Entscheidungsgremien hinein zu tragen!

Zum einen wird dies ja gestützt durch die Psychotherapieforschung mit all den Studien zu den allgemeinen Wirkfaktoren (bzw. dem „Dodo Bird Effekt“: „all have won, all must have prices“), und zum andern durch die die inzwischen feste Etablierung systemischen Denkens und Handelns in weiten Bereichen der Wissenschaft. Und so liegt meine Zuversicht – das Ja im „Jein“, jenseits eines Zeitgeistes – im systemwissenschaftlichen Paradigma selber!

Bezogen auf Therapie und Beratung wäre es dann keine spezifische Methode, aber schulen übergreifend  ein systemisches und kontextsensibles Verstehen und Handeln. Oder wie mir mein Systemiker-Freund Wolfgang Loth schreibt, „ein ernsthaftes Bemühen dem auf die Spur zu kommen, was das überaus Komplexe in seiner ganzen Widersprüchlichkeit, Schönheit und oft auch Absurdität eine Rolle spielt, persönlich und in der Arbeit.“

Martin Rufer, im Mai 2025, Ehrenmitglied von Systemis

(angepasste Version meines einleitenden Referats für einen WS im Rahmen des Jubiläumssymposiums des HSI Heidelberg im Juli 2023, zusammen mit Rieke Oelkers-Ax und Günter Schiepek)