Während wir uns freuen, dass in vielen Kantonen der provisorische Tarif für die Abrechnung von Psychotherapie über die Grundversicherung bis auf weiteres beibehalten wird, gibt eine andere erschreckende Entwicklung aktuell viel zu reden: Im Januar wurde dem Nationalrat durch die nationalrätliche Gesundheitskommission eine Motion zur Annahme empfohlen, die den Vertragszwang von Krankenversicherern künftig lockern soll. Die sogenannte „Motion Hegglin“ (vorgebracht vom Zuger Mitteständerat Peter Hegglin) sieht vor, den Krankenversicherern einerseits die Kompetenz zu verleihen, die freie Arzt-/Therapeut:innenwahl einzuschränken und andererseits sogar Psychotherapeut:innen respektive Psychiater:innen die Bewilligung zur Abrechnung über die Grundversicherung zu entziehen. Trotz Ablehnungsempfehlung des Bundesrates wurde die Motion bereits im September 2024 vom Ständerat gut geheissen, und nun, trotz Abraten von FSP, FMH und H+, von der Gesundheitskommission zur Annahme durch den Nationalrat empfohlen.
Hintergrund der Debatte ist, dass der Krankenversichererverband santésuisse (in deren Verwaltungsrat Herr Hegglin übrigens sitzt) respektive die neuentstandene prio.swiss (Verband der Schweizer Krankenversicherer, welcher santésuisse und curafutura in ihrer Funktion als Interessensvertretung ablöst) unter anderem die Zulassung der psychologischen Psychotherapeut:innen zur Grundversicherung für die „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen verantwortlich machen möchte. Scheinbar möchte sich die prio.swiss das Recht erwirken, sich über den Entscheid der Kantone zu stellen, um die Tarife lenken zu können, die freie Wahl von Therapeut:innen und Ärzt:innen einzuschränken und überdies gewisse Psychotherapeut:innen nicht mehr zur Abrechnung über die Grundversicherung zuzulassen.
Hegglin schreibt in seiner Motion „Ein Grundpfeiler des heutigen KVG ist der Kontrahierungszwang, der die Krankenversicherer verpflichtet, mit jedem zugelassenen Leistungserbringer einen Vertrag abzuschliessen. Für die Zulassung sind ausschliesslich formale Kriterien wie berufliche Qualifikationsnachweise oder Anforderungen an die Infrastruktur relevant. Anforderungen an Qualität und Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung spielen in der Realität bisher nur eine untergeordnete Rolle.“ [1] Dieses Argument empfinden wir als Affront. Die Qualität von Fachpersonen soll scheinbar an deren Wirtschaftlichkeit gemessen werden, nicht an ihren Qualifikationen.
Die Lockerung der Vertragspflicht der Krankenversicherer könnte schwerwiegende Folgen haben. Sie könnte dazu führen, dass Therapeut:innen davon absehen müssten Patient:innen mit komplexen Störungsbildern (denen heute schon mit dem Anordnungsmodell schwer Rechnung getragen werden kann) zu behandeln, weil sie durch eine längere Behandlungsdauer riskieren als „ineffiziente:r Therapeut:in“ eingestuft zu werden, was zur Kündigung von Verträgen mit Krankenversicherungen führen könnte. Hier könnte eine Versorgungslücke entstehen, auf Kosten der Patient:innen, die für eine Therapie, welche nicht über die OKP finanziert wird, kaum selbst aufkommen könnten.
Während in der Schweiz die Gewaltentrennung hochgehalten wird, scheint diese im Gesundheitswesen zunehmend bedroht. Dies jedoch allgemein und nicht nur auf die Psychotherapie bezogen. In der Medizin existieren seit längerem die Fallpauschalen, die immer wieder die Frage aufkommen lassen, inwiefern die Patient:innen das erhalten, was für sie hilfreich ist. Bei diesen Entwicklungen, die über ärztliche und psychotherapeutische Leistungen hinaus gehen, sehen wir eine grosse Diskrepanz zwischen dem Rahmen, welcher aus fachlicher Sicht eine effektive Behandlung voraussetzt und den Bedingungen, unter denen wir arbeiten sollen.
Wie können wir mit unserer systemischen Haltung, unserem systemischen Menschenbild und Fallverständnis in einem System arbeiten, das sich zunehmend an kurzfristiger Kostenoptimierung orientiert und immer weniger am langfristigen Wohl von Patient:innen und somit einer gesamtgesellschaftlichen Kostenrechnung?
In der systemischen Psychotherapie und Beratung geht es auch darum, die Perspektive zu wechseln, Möglichkeitsräume zu schaffen, Ressourcen zu aktivieren. Hier möchten wir ansetzen. Welche Ressourcen haben wir? Welche Möglichkeitsräume können wir gemeinsam schaffen/gestalten? Welche Rolle kann Systemis und können die Mitglieder dabei einnehmen?
Als Fachverband mit einer breiten Mitgliedschaft aus Sozialarbeitenden, Psycholog:innen, Ärztinnen und anderen Grundberufen möchten wir uns gerne der Frage widmen, wie wir gemeinsam auf solche Entwicklungen reagieren können. Wir möchten uns überlegen, wie wir uns gegenseitig stärken können, sodass wir alle in diesem System funktionieren und arbeiten können, egal ob über die Krankenkasse, andere Geldgeber oder Selbstzahler:innen abgerechnet werden kann.
Gerne sind wir offen für eure konstruktiven Ideen und freuen uns über Feedback an die Geschäftsstelle (sekretariat@systemis.ch).
Für den Vorstand
Anna Beer & Nicole Wägli, Co-Präsidium
[1] Quelle: https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20234088