David Trachsler teilt assoziativ Fall-Vignetten und allgemeine Überlegungen aus seiner alltäglichen Arbeit vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Erfahrung.
Angefragt, ob ich zum Tag der Familie einen Beitrag schreiben könnte, kommen mir so viele Themen in den Sinn, dass ich nicht weiss, wo anfangen. So überlasse ich mich zuerst ein paar Assoziationen und Beispielen aus meiner täglichen Arbeit. Danach werde ich eine Reihe allgemeiner Gedanken dazu ableiten. Der Tag der Familie wird so zum Tag der Familien-Therapie und des Familien-Fokus in der systemischen Therapie.
Sie brauchen etwa eine Viertelstunde Zeit, um den ganzen Text zu lesen. Sie können sich aber auch nur ein oder zwei Vignetten herauspicken oder nur den allgemeinen Teil lesen. Alle Vignetten sind so bearbeitet, dass die Familien anonym bleiben.
Erfahrung 1, Familie A.
Oft verabrede ich mit Kinder-Familien, in denen die Eltern Sorgen bezüglich eines Kindes haben, 10 Sitzungen als Rahmen ab. Wer zu den Sitzungen kommt, ergibt sich vorzu. Spätestens nach 10 Sitzungen ziehen wir Bilanz. Es kann sein, dass die Familie und ich eine Überweisung zu einer Einzeltherapie oder eine Abklärung für ein Kind oder einen Erwachsenen verabreden. Meistens aber schliessen wir nach diesen 10 Stunden ab (es können auch 9 oder 13 sein). Eine solche Therapie dauert in der Regel Grössenordnung ein gutes Jahr.
So auch bei Familie A. Die Eltern kommen erschöpft. Vor allem die Nächte sind schlimm. Der Sohn, 6jährig, schläft nur ein, wenn ein Elternteil dabei ist. Er sagt, er habe Ängste. Er wacht früh auf und weckt die Eltern. Sonst verhält er sich oft uneinsichtig und störend und scheint bei Anweisungen nicht zuzuhören. Die Tochter 8jährig sei brav und wird nicht als Problem wahrgenommen. Ich sehe insgesamt 5 mal die Eltern zusammen, einmal den Vater allein auf eigenen Wunsch, 4 mal beide Eltern und beide Kinder zusammen – also klassische Familiensitzungen. Der Verlauf der Arbeit zeigt eine Reihe von Elementen, die in solchen Therapien oft auftauchen:
- Vieles in der Familie geht auch gut. Bei den Ferien im Heimatland der Mutter etwa, gibt es kaum Probleme. Die Eltern sind sehr engagiert, die Kinder sehr clever.
- Die Aufmerksamkeit auf die Probleme verschiebt sich. Wir beleuchten hintereinander eine ganze Reihe von Themen. Wir verstehen gemeinsam deren Wechselwirkungen.
- Schlafen ist bald kein Problem mehr. Dafür Konflikte des Buben in der Schule. Die Tochter ist auf einmal weniger brav.
- Der Vater hatte selber auch Schulprobleme. Auch darum gehen die Kinder in eine Privatschule.
- Die Kinder haben oft Konflikte miteinander. Kooperieren aber in der Sitzung z.T. super.
- Die Eltern haben verschiedene Erklärungs- und Lösungsansätze für die Kinderprobleme. Sie haben unterschiedliche Strategien mit den Kindern und gewichten die Bedürfnisse der Kinder oft höher als ihre eigenen.
- Beide Eltern sind unzufrieden mit ihrer Arbeit und beruflich sehr angespannt. Das führt auch zu Konflikten zwischen den Eltern, welche die Kinderprobleme verstärken, welche wiederum die Elternprobleme verstärken.
- Der Sohn streitet oft in der Schule und wird dort mehr und mehr zum Sündenbock. Das wiederum hat viel zu tun mit der Situation in der Kindergruppe und im Lehrkörper.
- Gleichzeitig hat der Sohn aber auch wenig konstruktive Konfliktlösungsstrategien. Die ganze Familie arbeitet an besseren Konfliktlösungsstrategien. Das tut allen gut.
- Nach 10 Sitzungen schliessen wir ab. Auf allen Ebenen ist es zu einer Entspannung gekommen. Einige Schwierigkeiten gibt es immer noch. Entscheidend: Die Eltern trauen sich zu, sie selbst zu lösen. Sie haben entschieden, die Kinder in die normale Schule zu schicken. Bei Bedarf können sie sich wieder melden.
Erfahrung 2, Familie B
Eine weitere Standardausgangslage. In einer Familie mit erwachsenen Kindern gibt es Konflikte und Kontaktabbrüche, unter denen alle leiden. So auch in Familie B.
Es meldet sich die Mutter auf Anraten der Einzeltherapeutin. Der Sohn will die Mutter nach Jahren mit Konflikten nicht mehr sehen. Die Mutter ist verzweifelt. Sie hat als erfolgreiche Spezialärztin die Buben selber aufgezogen, Familie bedeutet ihr sehr viel. Die Eltern sind geschieden. Der Sohn ist 34 und bereit, in einem Gespräch bei mir die Mutter zu treffen. Sonst will er sie nicht sehen. Er ist sehr pessimistisch, was den Erfolg einer Therapie angeht. In Tat und Wahrheit braucht es zwei Telefongespräche und drei Sitzungen, bis die beiden abschliessen. Sie haben sich inzwischen wieder ausserhalb der Therapiesitzungen getroffen und sind zuversichtlich, dass sie ihre Beziehung selbst weiter entwickeln können. Vater und Schwester, die beide im Ausland leben, konnten und mussten wir nicht mehr einbeziehen. Begünstigt wurde der rasche und nicht zu erwartende Erfolg zweifellos dadurch, dass beide, Mutter und Sohn, selbstreflexiv und intelligent sind und die Mutter auch einzeltherapeutisch Unterstützung hatte.
Erfahrung 3, Familie C
Hier kommen drei erwachsene Kinder zusammen mit ihrem Vater. Die Mutter hat die Familie zusammengehalten, die Beziehungen zu ihr waren aber eher problematisch. Seit sie überraschend gestorben ist, sind die anderen Mitglieder in eine komplizierte Trauerdynamik geraten, alte Familienkonflikte kommen wieder hoch. Die erwachsenen Kinder, die ein sehr volles Leben haben, sorgen sich um den Vater, der alleine ist. Es gibt keine klaren Vorstellungen mehr, wie die Familienmitglieder sich sehen wollen, was für Familienrituale gelten. Die «Kinder» haben selber schon Kinder und Partner. Durch die Vorstellungen des Vaters fühlt sich vor allem eines der Kinder eingeengt. Eine der jungen Erwachsenen hat seit jeher eine Art Elternrolle. Alle 5 sind sehr tüchtige Personen, trotzdem ist bei allen der Leidensdruck hoch. In den Familiensitzungen geht es auch darum zu sortieren, was bei jedem ins eigene Leben gehört und wo Anteilnahme und Klärung im Herkunftssystem noch angebracht ist und wie sich die Familie nach dem Tod der Mutter neu organisiert. Die Abstände zwischen den Sitzungen sind lang. Die Familienmitglieder wohnen weit auseinander. Alle Teilnehmenden erleben den Austausch in den Familiengesprächen als erleichternd und hilfreich.
Erfahrung 4, Familie D
Eine Mutter lebt getrennt vom Vater mit zwei Töchtern, 13 und 9. Die Mutter ist sehr besorgt über einen plötzlichen Wandel bei ihrer jüngeren Tochter. Nach dem Wechsel in die 4. Klasse mit neuer Lehrerin und z.T. neuen Kindern ist das bisher fröhliche Kind plötzlich auffällig freudlos, beschäftigt sich mit dem Thema Tod, sieht seine Freundinnen weniger und hängt sich sehr an ihre Mutter. Diese möchte die Tochter abklären lassen und vielleicht eine Therapie für sie organisieren.
Das besondere an der Situation: Die Mutter meldet sich nicht wie das häufig der Fall ist, als Mutter, um ihre Tochter anzumelden. Nein, die Mutter ist schon lange in einer Einzeltherapie bei mir. Zwar bin ich auf Fragen wie die vorliegende spezialisiert, aber wenn ein Setting einmal klar festgelegt ist, in diesem Falle Einzeltherapie mit einem Familienmitglied, arbeite ich nicht auch noch einzeln mit einem anderen Mitglied der Familie. Ich biete meiner Klientin aber an, mit ihrer Tochter gemeinsam in ein Gespräch zu kommen, sofern die Tochter dazu bereit ist. Dieses verläuft sehr gut. Ich unterhalte mich primär mit dem Kind. Wir verstehen gemeinsam, dass ihr aktuelles Thema Abschied ist und Neubeginn, und dass der Klassenwechsel und auch noch ein paar andere Veränderungen, ganz viel aufwirbeln und zwar bei Mutter und Tochter. Da die Mutter und ich uns schon sehr gut kennen, verstehen wir die Zusammenhänge rasch. Bekannte Familienthemen wirken sowohl auf Mutter wie auf Tochter in unterschiedlicher Weise. Die Reaktionen der beiden wirken wieder wechselseitig aufeinander und schaukeln sich hoch. Die Mutter versteht ihren Anteil an der Dynamik. Die Mutter und ich können dem Kind eine entlastende und normalisierende Sicht auf ihre Probleme anbieten. Dieses eine Gespräch genügt. Die Neunjährige geht rasch wieder gerne in die Schule, der Mutter geht es dadurch auch wieder besser.
Erfahrung 5, Familie E
In Supervisionen lerne ich ein mehrfaches von Familien kennen als in meiner eignen Praxis. So etwa Familie E, von der eine fortgeschrittene Studierende im IEF berichtet. Sie behandelt in einer psychiatrischen Einrichtung stationär eine junge Frau, suizidal, mit starken Panikattacken seit längerer Zeit, die mit Bruder und Vater noch zu Hause wohnt. Nur eine kleine Information sei hervorgehoben: Die Klientin berichtet, dass sie früher sehr starke Konflikte mit ihrer Mutter gehabt habe. Diese Konflikte seien ganz verschwunden, seit ihre Panikattacken angefangen hätten.
Und hier kommen nun meine
Allgemeinen Gedanken zum Tag der Familie, bzw. des Familienfokus in der systemischen Therapie.
- Das letzte Beispiel der Familie E zeigt wunderbar klar, wie Probleme und Symptome häufig nicht nur durch eine Familiendynamik entstehen, sondern in dieser eine wesentliche Wirkung entfalten. Das Problem ist eine Lösung. Wenn vielleicht auch nicht die beste. Meist eine Lösung für ein «inneres» und parallel dazu für ein «äusseres» Problem im Familiensystem.
- Die Therapeutin hat Familie E physisch eingeladen. Das ist oft sehr zu empfehlen. Einen Familienfokus zu haben bedeutet aber nicht – mittlerweile Standardsicht – dass immer Familienmitglieder eingeladen werden müssen. Es bedeutet vielmehr, dass die Klientin versteht, was sie mit ihrem inneren System in Bezug auf ihr Familiensystem tut. Im vorliegenden Fall mag das trivial erscheinen, ist es aber keineswegs. Nur wenn die Wahrnehmung der Therapeutin auf solche Zusammenhänge ausgerichtet ist, werden sie und die Klientin diese auch finden. Sonst macht man nur die im Manual vorgesehenen Atem- und Expositionsübungen.
- Dazu möchte ich allen KollegInnen, die wenig bis gar nie im Familiensetting arbeiten, folgende Erfahrung nahe bringen: Auch nach Jahrzehnten als Therapeut bin ich immer wieder – sorry für das modische, aber ungemein passende Wort: geflashed, wie sehr sich meine Wahrnehmung auf eine Situation verändert, je nach dem mit welchem Fokus und von welcher Position ich darauf blicke, ganz besonders dann, wenn ich statt einer einzelnen Person die sie umgebenden Bezugspersonen, die Familie, im Raum habe.
- So hätte ich bei Familie A etwas völlig anderes gesehen, wenn ich den identifizierten Patienten alleine untersucht oder therapiert hätte. Wie sehr der Vater getriggert war durch die Probleme seines Sohnes auf dem Hintergrund eigener Schulerfahrungen. Wie entscheidend die Wesensart der Schwester für die Verhaltensweisen des IP waren, wie die Eltern konkret ins Geschwistersystem hinein intervenierten, all das springt einem, wenn die Familie vor einem sitzt, unübersehbar ins Gesicht. Bestenfalls findet man es anders heraus über aufwendige und viel weniger ergiebige Befragungen. Oder gar nicht. Wie oft muss man in unserem Feld diese einfache Wahrheit noch wiederholen: Das Beobachtungsinstrument bestimmt, was man sieht und was man nicht sieht!
- Darüber hinaus wird ja in der Therapie nicht nur beobachtet, sondern benannt und verändert. In Familie B kann ich sur place die beobachteten Interaktions- und Interpretationsmuster ansprechen. Und ich kann Mutter und Sohn ebenso sur place dazu anleiten, anders miteinander umzugehen und sich besser zu verstehen. Und manchmal, wie hier, klappt das erstaunlich gut und brennt sich als Erfahrungsspur bei den beiden ein, die vorher kaum an eine Veränderung geglaubt haben und verzweifelt waren.
- Bei Familie D kann ich durch die Verdichtung im Hier und Jetzt der Mutter-Tochter-Interaktion etwas bewirken, was sonst vielleicht eine ganze Abklärung und Kindertherapie lang gedauert hätte. Zugegeben, die Gelegenheit war besonders günstig, weil die Einzeltherapie mit der Mutter schon so viel gute Voraussetzungen geschaffen hat. Aber typischerweise sieht diese Gelegenheiten nur, wer die Superpower der Familie auf dem Schirm hat, und sie im rechten Moment zu nutzen weiss, und das oft in einer überraschenden individuellen Konstellation, die sich in keinem Handbuch oder Manual findet. Es ist das Familien- und System-Mindset, mit dem man mögliche kürzere Wege überhaupt erst sehen kann.
Es ist klar: Ich bin – nicht nur zum Tag der Familie – ein grosser Fan a) der Familienperspektive und b) des Mehrpersonensettings. Systemische Therapie ist ursprünglich Familientherapie. Und sie sollte das, finde ich, auch immer bleiben.
Das soll selbstverständlich nicht heissen, dass systemische Therapie nur Familientherapie sei. Und es soll erst recht nicht heissen, dass wir unsere Klienten nur im Familiensetting sehen. Letzteres habe ich als Imperativ noch erlebt. In den euphorischen Anfangszeiten war es in der Kinder-und Jugendpsychiatrie unter SystemikerInnen geradezu Pflicht, immer zuerst die ganze Familie einzuladen, z.T. sogar dauerhaft während der ganzen Behandlung, was zu endlosen Gesprächen am Telefon mit unmotivierten Vätern, zu Energieverschleiss und Zeitverlust führte. Oft ist das Einzelsetting sinnvoll und hinreichend oder sogar notwendig.
Zwischen reinem Einzelsetting und reinem Familiensetting gibt es wie geschildert vielfältigste Kombinationen. Genauso vielfältig sind die möglichen Zwecke einer solchen Kombination. Diese müssen wie in jeder Therapie bezüglich Auftragsklärung allen Beteiligten glasklar sein: Wozu soll das Kind mitkommen? Die Partnerin? Die Mutter? Die Grosseltern? Die Geschwister? Die ganze Familie?
Wenn man das nicht weiss, soll man das Mehrpersonensetting besser bleiben lassen. Wir müssen uns als TherapeutInnen immer fragen: Was ist weshalb jetzt indiziert?! Die Familienperspektive und das Familiensetting sind es nicht immer. Aber wenn sie indiziert sind, sind sie eine Superpower, auf die man einfach nicht verzichten sollte.
Leider stelle ich fest, dass diese Erfahrung und Einsicht noch immer aktiv propagiert werden muss. Das gilt insbesondere – so sehe ich in den Supervisionen – für die institutionelle Erwachsen-Psychiatrie. Da kommt es mir manchmal vor, als ob die Zeit seit meiner eigenen Ausbildung in den 90er Jahren stehen geblieben sei. Immer noch gibt es Kinder, die nicht einmal über die Krankheitszustände ihrer Eltern informiert werden, immer noch gibt es wesentliche Familienmitglieder, welche die Probleme aufrechterhalten und/oder für deren Bewältigung entscheidend sein könnten und/oder unter diesen Problemen massiv leiden, die nie eingeladen werden*. Und in den systemischen Weiterbildungen kommen die Skills, im Mehrpersonensetting zu arbeiten, heute immer noch zu kurz, vielleicht sogar vermehrt, weil sie anderen Inhalten, die nicht immer über alle Zweifel erhaben sind, Platz machen (müssen).
Nur wer die Arbeit im Mehrpersonensetting genug gelernt und geübt hat und ein bisschen Mut dazu mitbringt, wird davon auch häufiger Gebrauch machen und die Wirkung, die es hat, und den Spass, den es macht, erleben und weitererzählen.
* Empfohlen sei zu diesem Thema der aktuelle Film von Annina Furrer «Ignoriert von der Psychiatrie» vom Donnerstag, 8. Mai 2025 auf NZZ Format, zu finden auf SRF Play und auf Youtube.
hh
David Trachsler ist eidgenössisch anerkannter Psychotherapeut in eigener Praxis in Zürich. Er hat 25 Jahre in der PUK für Kinder-und Jugendpsychiatrie gearbeitet. Er ist seit 20 Jahren als Supervisor und Ausbilder tätig, war Mitglied des Ausbildungsteams «Phasische Paar-und Familientherapie», Mitinhaber der «Plattform für systemische Kompetenz», 6 Jahre lang Vorstandsmitglied von Systemis, und ist Ausbildungssupervisor am IEF Zürich. Darüber hinaus war er in einem früheren Leben Radio-Journalist und Fernsehsprecher. Kontakt: david.trachsler@bluewin.ch.