Unser altverdientes Mitglied Martin Rufer macht sich im folgenden Text Gedanken zum Thema Gleichstellung und Frauenstreik, zu den Frauen im Gesundheitswesen und zu einem weiteren möglichen Streik… Für seine persönliche Abwesenheit am 14. Juni hat er einen überraschendend guten Grund.
Viel wurde in den letzten Wochen und Monaten zur Gleichstellung und Gleichberechtigung von Frauen geschrieben. Gut so, denn wie im BUND („Frau sein als Berufsrisiko“, 3.6.2019) gut aufgezeigt wurde, ist z.B. der Weg über „Gleichstellungsklagen“ ein langer, steiniger, ein von vielen Hemmschwellen, aber wenigen Erfolgen geprägter.
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Still schweigend: Die Psychologinnen (und Psychologen)
Dass im Gesundheitswesen, und hier insbesondere in der Pflege, die Frauen den Löwenanteil bilden, aber auch in der Ärzteschaft (unter 45 Jahren) die Frauen in der Mehrheit sind, ist hinreichend belegt. Worüber aber noch wenig geredet und geschrieben wurde, ist die Tatsache, dass im Bereich psychiatrisch-psychologischer Grundversorgung nicht nur die Frauen, sondern hier im Bereich von Therapie und/oder Fallführung die Psychologinnen die Mehrheit bilden. Dies gilt nicht nur für Kliniken und Ambulatorien, sondern auch für die zahlreichen in den Praxen, wenn auch in ärztlicher Anstellung delegiert arbeitenden Psychologinnen. Allerdings verdienen diese (wie auch die PsychologInnen) bei gleicher Arbeit (Psychotherapie) immer noch 30 Prozent (!) weniger als ihre ärztlichen Kolleginnen und Kollegen. Dieses Unrechtssystem ist bekannt und seit Jahrzehnten Teil berufspolitischer Initiativen und kontrovers geführter Debatten, auch in der Tagespresse.
Da der Beruf „Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie“ zunehmend an Attraktivität verliert, entscheiden sich junge Ärzte vermehrt für ein anderes, für sie auch finanziell interessanteres Berufsfeld. In der Folge kämpfen Kliniken und Praxen seit Jahren mit Nachwuchsproblemen. „Still und schweigend“ haben sich nun in diesem genuin medizinischen Feld die Psychologie und mit ihr die Frauen niedergelassen und etabliert. Dieses Bild zeigt sich noch deutlicher in den postgradualen Weiterbildungen „Psychotherapie“, wo sowohl Ärzte als auch Psychologen (Männer) die Ausnahme sind. Es scheint, dass insbesondere Frauen auf das ehemals für Ärzte vorgesehene (Teilzeit-) Stellenangebot mit gut nachvollziehbaren, auch familiären Gründen ansprechen und in vielerlei Hinsicht davon profitieren. Ohne allzu grosses Aufmucken – man will sich ja nicht ins eigene Fleisch schneiden – werden dafür sowohl die „Abhängigkeit“, d.h. die ärztliche Anstellung bzw. Delegation, als auch der kleinere „Lohn“ – der ja im Vergleich zu andern Berufsgruppen so schlecht auch nicht ist – in Kauf genommen.
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Wenn Frau will – steht alles still
Damit ist klar, und das wissen auch die Verantwortlichen in den Kliniken und Praxen: Ohne sie, die bestens qualifizierten Psychologinnen, würde die psychiatrische Versorgung in den Kliniken schon heute kollabieren, und die Zahl der Patientinnen und Patienten, die auf einen ambulanten Therapieplatz warten, ins Unermessliche steigen! Auch wenn bei einem solchen Blackout die Mehrheit der Bevölkerung kurz-und mittelfristig kaum in Mitleidenschaft gezogen würde, die Gleichstellung würde mit Sicherheit innert kürzester Zeit und auf höchster politischer Ebene zur Chefsache gemacht. In der Folge würden die über Jahre aufgeschobenen Forderungen und Gleichstellungsmodelle ärztlicher und psychologischer Psychotherapie wohl sehr schnell aufgenommen, weiter ausgearbeitet und ggfl. mit entsprechenden „Notstandsmassnahmen“ in die Praxis umgesetzt.
„Die Bilanz ist ernüchternd, aber es gibt Hoffnung“. So betitelt an Pfingsten die NNZ am Sonntag die aktuelle Debatte. Auch darum gilt es, den Kampf um Gleichstellung aktiv zu unterstützen: als Psychologinnen und Psychologen, als Ärztinnen und Ärzte, als Patientinnen und Patienten. Denn schon bald könnte es auch in dieser Sache ernst werden und zur Sache gehen…
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In eigener Sache
Darum zum Schluss noch in eigener Sache: Dass ich selber am „Frauenstreik“ nicht teilgenommen habe, hat zum einen damit zu tun, dass ich mich als selbstständig arbeitender Psychologe und Psychotherapeut nicht selber bestreiken kann, und zum andern, weil ich am 14. Juni im Süden bin und dort in kleinerem, familiär-freundschaftlichem Kreise meinen 70. Geburtstag feiern darf.
Martin Rufer, Wohlen b. Bern
Systemis-Mitglied Martin Rufer ist seit 1990 als selbstständiger Psychologe und Psychotherapeut (Psychotherapie, Supervision, Weiterbildung) in Bern tätig. Von 2000–2009 war er Geschäftsleiter des Zentrums für systemische Therapie und Beratung (ZSB) Bern. Unter anderem hat er das Buch „Erfasse komplex, handle einfach“ publiziert (Vandenhoek Ruprecht 2012).
Der Vorstand von Systemis gratuliert Martin Rufer nachträglich herzlich zu seinem 70. Geburtstag!