„Eine von der Allgemeinheit getragene Finanzierung von Psychotherapie, in der die Indikation ‚psychische Störung mit Krankheitswert‘ (KVG) schon mit dem Schritt über die Schwelle eines Psychiaters gegeben ist, darf nicht (mehr) sein. Die Psychiater*innen sind es den Patient*Innen wie auch den Prämien- und Steuerzahler*innen schuldig zu begründen, was indiziert ist, bzw. wer oder was Frequenz und Dauer einer Therapie bestimmen. Die Kritiker von ’noch mehr‘ Psychotherapie haben sonst mit vereinfachenden, politisch aber wirksamen Argumenten gegen Psychotherapie als einer ‚Wundertüte für Alles und Jedes‘ ein leichtes Spiel.“

Dies schrieb ich 2014 für eine grössere Tageszeitung nach Erscheinen des Forschungsberichts „Psychische Gesundheit und Beschäftigung: Schweiz“ (OECD), damals auch mit Blick auf die fehlende Anerkennung von Psycholog*innen als eigenständige Leistungserbringer (Grundversicherung).

Der Anstoss, sich dazu heute nun noch einmal zu Wort zu melden, kam zum einen von einer Kollegin, zum andern aus zunehmender Sorge um das Wohl psychisch leidender Menschen sowie  aktuellen Entwicklungen im Berufsfeld Psychiatrie/Psychotherapie. Dass die psychologischen Psychotherapeut*innen vom 1. Juli 2022 an nun auch eigenständig Psychotherapien anbieten und diese über die Grundversicherung abrechnen können („Anordnungsmodell“), war nach all den Jahren des Kämpfens ein überfälliger Schritt auf dem Weg zu „gleich langen Spiessen“.

Aber: Auch nach diesem „Systemwechsel“ bleiben viele Fragen offen, nicht zuletzt auch diejenigen die Tarifregelung betreffend. Hier teile ich die Sorge vieler Psychiater*innen, dass Menschen mit schwerwiegenden psychischen Erkrankungen auf der Strecke bleiben könnten (dies allerdings im Wissen, dass es gerade diese Patient*innen sind, die von qualifizierten Psycholog*innen behandelt werden). Zudem fehlen, wie aktuelle Erhebungen zeigen, insbesondere der Kinder- und Jugendpsychiatrie die Fachleute für zeitnahe, auch ambulante Krisenangebote. Der Grund dafür liegt allerdings nicht im Anordnungsmodell, sondern mitunter in der Struktur der Psychiatrie (z.B. im fehlen ärztlichen Nachwuchs). Es darf und kann aber nicht sein, dass dieser Notstand nun einfach  kompensiert wird, indem man junge Psycholog*innen mit neuen Auflagen „anbindet“…

Gleichzeitig boomen die Weiterbildungsangebote Psychotherapie/Psychiatrie und in diesen die Therapiemethoden, die wellenartig kommen und gehen.  Sie heben im günstigen Fall die Qualität der Anbieter*innen, schaffen damit aber auch einen Markt, der sich dem jeweiligen Zeitgeist folgend erhalten und weiter wachsen muss. Mit Blick auf die Patient*innen müsste daher auch selbstkritisch die Frage erlaubt sein, ob wir als Fachleute, gerade auch als „Systemiker“ im Rahmen der Grundversorgung damit auch die „Richtigen“ behandeln? Sind es zwar  wirksame, meist aber doch anspruchsvolle, vorwiegend aber im Einzelsetting durchgeführte Therapiemethoden, mit denen man sich  auf ein Klientel auszurichten beginnt, das die entsprechenden Voraussetzungen dafür auch mitbringen muss  (Introspektionsfähigkeit, Intelligenz, Alter u.a.). Nicht selten handelt es sich dabei zwar nicht um weniger Leidende, in der Fachliteratur aber doch als  „YAVIS-Klientel“ Beschriebene (Young, Attractive, Verbal, Intelligent, Successfull).

Mit dem „Anordnungsmodell“ wird sich die Zusammenarbeit in und zwischen den Berufsgruppen verändern. Geprägt  von Konkurrenz am „Futternapf Psychotherapie“ ist aber doch zu hoffen, dass dieser „Systemwechsel“ letztlich dann doch den psychisch leidenden Menschen zu Gute kommt…

Die Sorge um die wohl auch im nächsten Jahr steigenden Gesundheitskosten ist damit aber nicht  vom Tisch. Im Gegenteil, wie dies aktuelle Zahlen aus der Physiotherapie zeigen. Mit Blick auf die laufenden Tarifverhandlungen  wäre daher zu prüfen, ob nicht zum einen Leistungen der Grundversicherung für eben diese „unattraktiven“ Patient*innen sowie für Kriseninterventionen besser honoriert und zum andern darin abgerechnete Therapien im Sinne der Qualitätssicherung differenzierter erfasst und überprüft werden sollten. Dies müsste für die Psycholog*innen und die Psychiater*innen gleichermassen gelten! Zudem besteht mit den (freiwilligen) Zusatzversicherungen unter Kostenbeteiligung der Klient*innen ja weiterhin ein Gefäss,  das psychotherapeutisch auch für die hilfesuchende (YAVIS)- Patientengruppe genutzt werden könnte. Ob sich unsere Gesellschaft also ein über die Grundversicherung finanziertes breites oder eher enges Psychotherapieangebot leisten will, dies allerdings ist nicht eine fachliche, sondern letztlich eine politische Frage und Entscheidung.

Martin Rufer, Psychologe und eidg. anerkannter Psychotherapeut, Bern